Es fehlt ein bedeutendes Stück Geschichte

Stuttgart, 27. Januar 2014

PRESSEMITTEILUNG

Zum Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus am 27. Januar erinnert das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg an ignorierte Lebenswege.

Vor 69 Jahren wurde das KZ Auschwitz-Birkenau befreit. Zum heutigen Gedenktag an die Opfer des Nationalsozialismus mahnt das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg an, sich der historischen Verantwortung endlich zu stellen und die unzureichende Geschichtsaufarbeitung des Landes als Chance auf Identitäts- und Kulturgewinn zu ergreifen. Das NS-Unrechtssystem mit landesgeschichtlichen Fragen zur geschlechtlichen und sexuellen Vielfalt zu verifizieren ist bis dato schlicht unmöglich, da keine systematische Forschung vorliegt. Diese Lücke gilt es zu schließen.

Angesichts der aktuellen Relevanz von Fragen um sexuelle Orientierung, Lebens- und Geschlechtsform – das zeigen die hitzigen Debatten um den Bildungsplan 2015 – wird der große Informationsbedarf umso deutlicher. Es ist demokratischer Konsens, dass wir nur im Wissen um die Gesamtheit der deutschen Vergangenheit zukunftsfähig sein werden. Darum ist es zwingend notwendig, alle Opfergruppen des NS-Terrors uneingeschränkt zu würdigen und ihre differenzierten Leidensgeschichten als Teil unseres Landes anzuerkennen. Doch wo wird an die Opfergeschichte von intersexuellen, transgender, trans- und bisexuellen sowie gleichgeschlechtlich liebenden oder queeren Menschen durch den NS-Terror gedacht? Wer kennt die Lebens-, Verfolgungs-, Flucht-, Widerstands- und Begehrenswege derjenigen, die jenseits der NS-Normen lebten?

Heute warten die Opfer noch immer auf Rehabilitierung und Entschädigung. Insgesamt wurden über 50.000 männliche Homo- und Bisexuelle im NS-Terror unter dem in der NS-Zeit verschärften §175 in Gefängnissen drangsaliert. Etwa 7.000 schwule und bisexuelle Männer wurden in den KZs ermordet. Von lesbischen oder bisexuellen Frauen ist wenig bekannt, sie wurden etwa als „Asoziale“ in das KZ-System eingewiesen. Die Geschichte von Trans- und Intersexuellen ist noch nicht aufgeschrieben worden. Es bleibt zu vermuten, dass sie im NS-Eutanasieprogramm getötet wurden. Dies sind lediglich Stichpunkte.

Zudem endete(n) die Repressions-, Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte(n) nicht mit dem Ende des Zweiten Weltkrieges im Jahr 1945, sondern wirkten ungebrochen weiter. Die strafgesetzliche Verfolgung schwuler und bisexueller Männer endete in letzter Konsequenz 1994. Bis 1973 galt der „Kuppeleiparagraph“, der lesbische Wohngemeinschaften, Urlaube oder Kneipen kriminalisierte. Erst 2013 wurde Intersexualität gesetzlich zur Kenntnis genommen. Das Transsexuellengesetz pathologisiert bis heute. Noch immer fallen Sätze wie: „Das hätte man früher nicht zugelassen“.

Für die Landesgeschichte fehlen hierzu konkrete Zahlen. Dieser Teil der Geschichte ist nahezu unerforscht. Bisher erinnern keine Dokumentations- oder Gedenkzentren an sie. Stolpersteininitiativen in Freiburg, Mannheim und Stuttgart sind vereinzelt erfolgreich gewesen, bei neuen Projekten wie dem Lern- und Gedenkort „Hotel Silber“ wird die LSBTTIQ-Geschichte wohl lediglich gestreift. Bis heute ist diese große Forschungslücke in keiner Wissenschaftsagenda berücksichtigt, bekannte Ergebnisse wurden ehrenamtlich erarbeitet.

Geschichtliche Existenz ist ein Menschenrecht. Zu wissen, welche Strukturen es früher ermöglichten, dass Baden-Württemberg in der Bundesrepublik etwa eine Spitzenposition im Kriminalisieren von männlichen Homo- und Bisexuellen einnahm, bietet die Chance, die demokratische Verfasstheit im Heute zu stärken. So können erkannte Ausgrenzungsstrukturen künftig verhindert werden. Dies ist ein Auftrag an die Landeszentrale für politische Bildung, die andere Geschlechter als das männliche mitzudenken hat. Gedenken an LSBTTIQ-Opfer des NS-Terrors einzufordern heißt, ein bedeutsames Stück Landesgeschichte sichtbar zu machen. Dies würde von einer Leistung zeugen, auf die alle stolz sein könnten.

Über das Landesnetzwerk: Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ist ein überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queer (LSBTTIQ) Gruppen, Vereinen und Initiativen. Das Netzwerk zeigt damit bereits die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit von Geschlecht und sexueller Orientierungen. Ziel des Landesnetzwerks ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen LSBTTIQ-Mitgliedsgruppen auf Landesebene zu fördern und den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, zu zentralen Themen gemeinsame Positionen zu erarbeiten und gegenüber landespolitischen Entscheidungstragenden zu vertreten. Dabei greift das Netzwerk auf die vorhandenen Kompetenzen und Expertisen der Mitglieder zurück. Die Bündelung der Aktivitäten vor Ort erbringt Synergieeffekte, die den gesellschaftlichen Beitrag der Mitgliedsgruppen wirkungsvoller gestaltet. Die Eigenständigkeit jedes Mitglieds wird respektiert und alle Mitglieder arbeiten gleichberechtigt.

Kontakt zum Sprechendenrat: sprechendenrat@netzwerk-lsbttiq.net
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LSBTTIQ: Die Abkürzung steht für die einzelnen Richtungen in der vielfältigen Regenbogen-Gemeinschaft – lesbisch (L), schwul (S), bisexuell (B), transgender (T), transsexuell (T), intersexuell (I), queer (Q).