In Baden-Württemberg kommt endlich Bewegung in die überfällige Aufarbeitung der Unrechtsgeschichte gegen schwule Männer während und nach der NS-Zeit.

Freiburg, den 18. Juli 2014

PRESSEMITTEILUNG

Jetzt gilt es geschlechterdemokratische und ganzheitliche Lösungen zu entwickeln für Aufarbeitung, Rehabilitierung wie auch Wiedergutmachung.

Als Schirmherr des diesjährigen Christopher Street Day (CSD) in Stuttgart sprach sich der stellvertretende Ministerpräsident des Landes Baden-Württemberg und SPD-Landesvorsitzende Nils Schmid am 11. Juli 2014 für die Rehabilitierung der Opfer des § 175 Strafgesetzesbuch. Damit schaffte er Öffentlichkeit für die überfällige Debatte. Am gleichen Tag wurde auch ein gemeinsamer Antrag von SPD und Bündnis 90/Die Grünen im baden-württembergischen Landtag eingereicht.
Die deutsche Gesetzgebung diskriminierte, verfolgte und kriminalisierte schwule Männer systematisch über einhundert Jahre lang – seit dem Deutschen Kaiserreich bis zur ersten Novellierung des Paragrafen 175 im Jahr 1969 in Westdeutschland. Und auch andere Menschen, die aufgrund ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität den gesellschaftlichen Erwartungen nicht entsprechen konnten, wurden durch diese strafgesetzliche Normsetzung bedroht. Erst im Jahr 1969 wurde in Westdeutschland eine erste Novellierung des sogenannten Schwulen-Paragrafen 175 vorgenommen. Das Stigma des Paragrafen währt bis in die heutige Zeit. Die Opfer wurden bisher weder rehabilitiert noch erhielten sie eine Wiedergutmachung – in welcher Form auch immer.
Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD) erklärte Ende Mai 2014, die schwarz-rote Koalition prüfe die Aufhebung der Urteile nach dem § 175. Dass sich nun mit Nils Schmid und Brigitte Lösch zwei prominente Köpfe der SPD und von Bündnis 90/Die Grünen öffentlich für dieses wichtige Thema einsetzen, bringt hoffentlich weiter Bewegung in die drängende, weil zeitkritische Auseinandersetzung mit diesem Kapitel der deutschen Geschichte in Baden-Württemberg dringend nötig ist.
Rehabilitierung und Wiedergutmachung sind zentrale Schritte für eine zukunftsorientierte Vergangenheitspolitik. Eine fundierte Aufarbeitung sowie eine öffentliche Darstellung der Ausgrenzungs-, Diskriminierungs- und Verfolgungsgeschichte von LSBTTIQ-Menschen sind zwingend notwendig. Dazu gehört auch der Blick auf weitere Opfergruppen, wie lesbische und bisexuelle Frauen, aber auch transsexuelle, transgender und intersexuelle Menschen. Auch sie alle entsprachen mit ihrer sexuellen und/oder geschlechtlichen Identität nicht den gesellschaftlichen Erwartungen – trotz Strafandrohung und sozialer Ausgrenzung. Ihre Geschichte ist nahezu unbekannt. Sie werden oftmals schlicht vergessen.
Es gilt daher jetzt Lösungen für Aufarbeitung, Rehabilitierung wie auch der Wiedergutmachung zu entwickeln, welche geschlechterdemokratisch, ganzheitlich und gendergerecht konzipiert sind. Die vergangenen Unrechtsstrukturen im Denken und Handeln der NS-Zeit dürfen nicht wiederholt werden. Die Opfergruppe wie lesbische Frauen, transsexuelle, transgender, intersexuelle und queere Menschen müssen in der historischen und gesellschaftspolitischen Aufarbeitung ebenso berücksichtigt werden wie schwule Männer. Der künftige Aktionsplan der baden-württembergischen Landesregierung „Für Akzeptanz & gleiche Rechte“ bietet eine besondere Gelegenheit, Maßnahmen auf Landesebene zur Aufarbeitung, Wiedergutmachung und Sichtbarmachung umzusetzen.
Der von den Landtagsfraktionen Bündnis 90/Die Grünen und SPD gemeinsam am 11. Juli 2014 eingebrachte Antrag zur Aufarbeitung der strafrechtlichen Verfolgung homosexueller Männer ist ein guter, längst überfälliger Anfang. Daraus lässt sich für das Land Baden-Württemberg die dringliche Aufgabe ableiten, mit allergrößtem Nachdruck auch auf Bundesebene eine umfassende Lösung zu finden.

Über das Netzwerk: Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ist ein überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queer (LSBTTIQ) Gruppen, Vereinen und Initiativen. Das Netzwerk zeigt damit bereits die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit von Geschlecht und sexueller Orientierungen. Ziel des Landesnetzwerks ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen LSBTTIQ-Mitgliedsgruppen auf Landesebene zu fördern und den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, zu zentralen Themen gemeinsame Positionen zu erarbeiten und gegenüber landespolitischen Entscheidungstragenden zu vertreten. Dabei greift das Netzwerk auf die vorhandenen Kompetenzen und Expertisen der Mitglieder zurück. Die Bündelung der Aktivitäten vor Ort erbringt Synergieeffekte, die den gesellschaftlichen Beitrag der Mitgliedsgruppen wirkungsvoller gestaltet. Die Eigenständigkeit jedes Mitglieds wird respektiert und alle Mitglieder arbeiten gleichberechtigt.

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