Zukunft braucht Erinnerung: Verfolgung und Diskriminierung von LSBTTIQ im Nationalsozialismus endlich konsequent aufarbeiten

Freiburg, 27. Januar 2017

PRESSEMITTEILUNG

Zum Tag des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus erinnert das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg daran, dass die Aufarbeitung von Verfolgungsgeschichte notwendig ist für eine nachhaltige Stärkung demokratischer Grundwerte und gelebter Akzeptanz menschlichen Vielfalt

Am 27. Januar 1945 wurde das Konzentrationslager Auschwitz befreit. Auschwitz steht symbolhaft für millionenfachen Mord, vor allem an Jüdinnen und Juden sowie an Menschen anderer Opfergruppen, die durch das System des Nationalsozialismus bekämpft und verfolgt wurden. Auschwitz steht für Brutalität, Menschenverachtung, Unmenschlichkeit, für Verfolgung und Unterdrückung. Auch mehr als siebzig Jahre nach der Befreiung mahnt Auschwitz symbolhaft ein „Nie wieder!“ an. Sein appellatives „Vergesst die Opfer nicht!“ fordert historische Aufarbeitung. Die Zeit drängt für die historische Arbeit mit Überlebenden und Zeitzeug_innen und die Sicherung wichtiger Quellen.

In Baden-Württemberg wurde die Forschung im Bereich lesbischer und schwuler Opfer nur durch eine Vielzahl von außeruniversitären Initiativen geleistet. Es gibt jedoch noch große Lücken im Geschichtswissen zur Verfolgung aufgrund sexueller Orientierung. Menschen wurden verfolgt, weil ihre geschlechtliche Identität nicht dem nationalsozialistischen Geschlechterbild entsprach. Unser Wissen darüber ist noch bruchstückhaft und die Aufarbeitung hat gerade erst begonnen.
Im vergangenen Jahr fand in Baden-Württemberg – zum ersten Mal unter Mitarbeit universitär verankerten Geschichtsforschung – eine Tagung zur Aufarbeitung der Verfolgungs- und Diskriminierungsgeschichte von homosexuellen Frauen und Männer, von Minderheiten aufgrund einer geschlechtlichen Thematik sowie von queeren Menschen in und nach der Zeit des Nationalsozialismus statt. Der Fachtag wurde in Kooperation mit dem Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ausgerichtet. Isabelle Hlawatsch, Mitglied des Sprechendenrats im Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg, begrüßt die Möglichkeit einer Verknüpfung von außeruniversitärer und einsetzender universitärer Forschung: „Zum ersten Mal haben universitäre und außeruniversitäre Forschung gemeinsam in Baden-Württemberg den Versuch unternommen, Erreichtes und Fehlendes zu benennen. Deutlich wurde, dass die spezifische Perspektive und die langjährige historische Expertise lesbischer, schwuler, bisexueller, transsexueller, transgender, intersexueller und queerer (LSBTTIQ) Menschen für die Universitäten unverzichtbar ist, um eine umfassende Sicht zu gewinnen.“

Durch finanzielle Förderung über den Aktionsplan für Akzeptanz und gleiche Rechte der baden-württembergischen Landesregierung hatten außeruniversitäre Forschende 2016 auch erstmals die Möglichkeit, ihre Erkenntnisse zusammenzutragen. Das Ergebnis wird nun anlässlich des diesjährigen Gedenktags im Internet unter dem Titel „Der Liebe wegen – von Menschen im deutschen Südwesten, die wegen ihrer Liebe und Sexualität ausgegrenzt und verfolgt wurden“ (www.der-liebe-wegen.org) der Öffentlichkeit zugänglich gemacht. Damit wurde auch der Entschließung des 15. Landtags von Baden-Württemberg zum Umgang mit den homosexuellen Opfern des Nationalsozialismus und der frühen Bundesrepublik (Landtagsdrucksache 15/5475) ein Stück weit Rechnung getragen.
Das sind erste wichtige Erfolge nach langjährigem Ringen auch durch das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg. Auf diesen kann allerdings nicht ausgeruht werden: Noch immer steht die Rehabilitierung der homosexuellen Männer aus, die nach § 175 verurteilt wurden. Auch das universitäre Forschungsprojekt „LSBTTIQ in Baden und Württemberg – Lebenswelten, Repression und Verfolgung im Nationalsozialismus und der Bundesrepublik Deutschland“
(www.lsbttiq-bw.de) und insbesondere das Modul „Lesbische, bisexuelle, trans- und intergeschlechtliche Menschen im deutschen Südwesten“ ist bisher finanziell nicht vollumfänglich gesichert.

„Die Erinnerung darf nicht enden; sie muss auch künftige Generationen zur Wachsamkeit mahnen“ – erklärte Bundespräsident Roman Herzog bei der Einführung des Gedenktages 1996. Dies gilt ganz besonders angesichts des Erstarkens rechtspopulistischer Kräfte, die zunehmend rückwärtsgewandte, ausgrenzende Sexualitäts-, Geschlechts- und Familienbilder propagieren. Angela Jäger, ebenfalls Mitglied des Sprechendenrats im Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg, erläutert, wie wichtig der Zusammenhang von wissenschaftlicher Aufarbeitung und gesellschaftlichem Erinnern ist: „Das Wissen um die Opfer des Nationalsozialismus bringt Orientierung für zukünftige Generationen und ist daher Voraussetzung für ein Zusammenleben in der Gegenwart, in der Vielfalt akzeptiert wird. Dazu braucht es auch eine Förderung von Projekten, die die Verfolgung und Diskriminierung lesbischer, schwuler, bisexueller, transsexueller, transgender, intersexueller und queerer Menschen in unserer Geschichte aufarbeiten.“

Über das Netzwerk: Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ist ein überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queeren (LSBTTIQ) Gruppen, Vereinen und Initiativen. Das Netzwerk zeigt damit bereits die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit von Geschlecht und sexueller Orientierungen. Ziel des Netzwerks ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen LSBTTIQ-Mitgliedsgruppen auf Landesebene zu fördern und den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, zu zentralen Themen gemeinsame Positionen zu erarbeiten und gegenüber landespolitischen Entscheidungstragenden zu vertreten. Dabei greift das Netzwerk auf die vorhandenen Kompetenzen und Expertisen der Mitglieder zurück. Die Bündelung der Aktivitäten vor Ort erbringt Synergieeffekte, die den gesellschaftlichen Beitrag der Mitgliedsgruppen wirkungsvoller gestaltet. Die Eigenständigkeit jedes Mitglieds wird respektiert und alle Mitglieder arbeiten gleichberechtigt.

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LSBTTIQ: Die Abkürzung steht für einzelne Richtungen in der vielfältigen Regenbogen-Gemeinschaft – lesbisch (L), schwul (S), bisexuell (B), transgender (T), transsexuell (T), intersexuell (I), queer (Q).