Aufklärung tut Not – im Bildungssystem sowie in der Gesellschaft

Ein klarer Blick für die Vielfalt in unserer Gesellschaft braucht einen Platz in unseren Schulen.
Die aktuelle Debatte zeigt den hohen Informationsbedarf.

Stuttgart, 31. Januar 2014: Die Verankerung der Akzeptanz gegenüber lesbischen, schwulen, bisexuellen, transsexuellen, transgender, intersexuellen und queeren Menschen (LSBTTIQ) im baden-württembergischen Bildungsplan 2015 schlägt seit Wochen hohe Wellen – emotional wie medial. Am Begriff der „Akzeptanz sexueller Vielfalt“ in einem Arbeitspapier der grün-roten Landesregierung erhitzen sich die Gemüter.

Rund um die Debatte werden dabei in den Köpfen der Menschen, an Stammtischen sowie in den Medien oftmals völlig falsche oder überzogene Bilder aktiviert. Gespenster von „Ideologie“ und „Indoktrination“ werden an die Wand gemalt, von „Bevormundung der Eltern“ oder „Werbung für Homosexualität“ ist die Rede. Es wird gar vor einer sogenannten „Vermittlung von Sexualpraktiken“ gewarnt. Als wäre Akzeptanz damit verbunden, „Sexualität einzuüben“. Über allem schwebt die Angst vor dem endgültigen Sittenverfall. Selbst das Aussterben der Menschheit wird heraufbeschworen. All dies führt zu einem grotesken Bild, welches nicht nur die Ziele von Bildung insgesamt außer Acht lässt, sondern auch die Notwendigkeit des Themas selbst verdrängt. Petitionen und Gegenpetitionen, Demonstrationen und Gegendemonstrationen machen deutlich: es besteht dringender Aufklärungsbedarf – im Bildungssystem sowie in der Gesellschaft.

Worum geht es also eigentlich? Es gilt, gelebte Lebensrealitäten sichtbar zu machen und angemessen darzustellen. Den Schülerinnen und Schülern ist bei der Einordnung dieser Aspekte in den heutigen gesellschaftlichen Kontext zu helfen und ein positiver Realitätssinn zu vermitteln. Für den Respekt gegenüber allen Menschen und Lebensentwürfen ist zu werben.

Wie kann das aussehen? Dies soll als Querschnittsthema erfolgen. Geplant sind weder ganze Unterrichtseinheiten noch ein „unverhältnismäßiger“ Fokus. Vielmehr muss deutlich werden, dass Homosexualität nicht ansteckend und Transsexualität nicht anerzogen ist. Eine unaufgeregte Selbstverständlichkeit soll auf dem Lehrplan stehen. Wenn in Gemeinschaftskunde über das Rechtsinstitut der Ehe zwischen Frau und Mann gesprochen wird, gilt es, im gleichen Zuge auch das seit 2001 eingeführte Rechtsinstitut der eingetragenen Lebenspartnerschaft für gleichgeschlechtliche Paare zu thematisieren. Kommt im Geschichtsunterricht die Sprache auf die Opfer des nationalsozialistischen Terrors im Zweiten Weltkrieg, gilt es, auch auf die Verfolgung von LSBTTIQ-Menschen einzugehen und darauf hinzuweisen, dass die Kriminalisierung unvermindert bis 1969 weiterging. Und im Biologieunterricht ist die Tatsache, dass Geschlecht mehr ist als nur die körperliche Hülle und Menschen nicht immer starr in Mann oder Frau einzuteilen sind ebenso wichtig wie der Hinweis, dass Homosexualität seit 1994 nicht mehr als Krankheit gilt. Und warum im Deutschunterricht nicht ein Gedicht einer lesbischen Dichterin interpretieren oder in der Kunststunde ein Bild eines schwulen Künstlers besprechen, ohne dabei den gesellschaftlichen Hintergrund in der jeweiligen Entstehungsgeschichte zu verschweigen?

Warum ist das wichtig? Schon allein die hitzigen Reaktionen auf die Pläne der grün-roten Landesregierung im Bildungsplan den Vielfaltsbegriff stärker als bisher in den Fokus zu rücken, sind der beste Beweis für die Notwendigkeit von angemessener Aufklärung und realitätsnaher Faktenvermittlung zu den Lebensweisen von LSBTTIQ-Menschen. Dabei stehen die Lebensrealitäten, nicht die sexuellen Praktiken im Vordergrund. Eine wichtige Lektion würden die Schülerinnen und Schüler bereits lernen, wenn verstanden wird, dass Homosexualität – ebenso übrigens wie Heterosexualität – deutlich mehr umfasst als nur Sex. Vielmehr geht es zwischen zwei Frauen oder zwei Männern eben auch um persönliches Glück, gegenseitige Liebe, gemeinsame Verantwortung und partnerschaftlichen Zusammenhalt.

Solange „schwule Sau“ noch das am meisten verbreitete Schimpfwort auf deutschen Schulhöfen und Homo- sowie Transphobie virulent greifbar ist, tut beherzte Aufklärung Not. Der großen Unwissenheit und der damit verbundenen Verunsicherung ist entgegenzutreten. Gerade dann, wenn diese Verunsicherung zu haltloser Verunglimpfung und Lachern auf Kosten anderer Menschen führt. LSBTTIQ-Jugendliche müssen an Schule und Bildung angstfrei teilhaben können. Für Lehrerinnen und Lehrer ist eine explizite Benennung und Verankerung der Realitäten um LSBTTIQ Verpflichtung und Versicherung zugleich. Nur so herrscht im Lehrplan künftig keine Willkür bei der Berücksichtigung von sexueller und geschlechtlicher Vielfalt. Auch wird den Lehrkräften damit deutlich der Rücken bei der Vermittlung eines offenen, toleranten und respektvollen Weltbildes gestärkt. Nur gut aus- und weitergebildete sowie sensibilisierte Lehrkräfte können eine Atmosphäre von Akzeptanz und Wertschätzung für den Schutz von allen Jugendlichen in der Schule aufbauen.

Was muss sich tun? Zum einen muss die emotional geführte, teilweise vorurteilsfördernde Debatte rund um den neuen Bildungsplan wieder deutlich versachlicht werden. Es gilt, Argumente auszutauschen und nicht Ängste zu schüren. Konkrete Beispiele und eine klare Kommunikation aller Beteiligten helfen. Dabei ist neben der Verankerung der LSBTTIQ-Themen in den Kompetenzen des neuen Bildungsplans die begleitende Überarbeitung des Lehrmaterials sowie die Sensibilisierung und Weiterbildung der Lehrkräfte erforderlich.

Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg schaut dabei mit großer Zuversicht auf die Bemühungen der grün-roten Landesregierung, die wichtigen Pläne zum Umgang mit Akzeptanz zu erklären und die richtigen Maßnahmen umzusetzen.

 

Über das Landesnetzwerk: Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ist ein überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queer (LSBTTIQ) Gruppen, Vereinen und Initiativen. Das Netzwerk zeigt damit bereits die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit von Geschlecht und sexueller Orientierungen. Ziel des Landesnetzwerks ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen LSBTTIQ-Mitgliedsgruppen auf Landesebene zu fördern und den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, zu zentralen Themen gemeinsame Positionen zu erarbeiten und gegenüber landespolitischen Entscheidungstragenden zu vertreten. Dabei greift das Netzwerk auf die vorhandenen Kompetenzen und Expertisen der Mitglieder zurück. Die Bündelung der Aktivitäten vor Ort erbringt Synergieeffekte, die den gesellschaftlichen Beitrag der Mitgliedsgruppen wirkungsvoller gestaltet. Die Eigenständigkeit jedes Mitglieds wird respektiert und alle Mitglieder arbeiten gleichberechtigt.

Kontakt zum Sprechendenrat: sprechendenrat@netzwerk-lsbttiq.net
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LSBTTIQ: Die Abkürzung steht für die einzelnen Richtungen in der vielfältigen Regenbogen-Gemeinschaft – lesbisch (L), schwul (S), bisexuell (B), transgender (T), transsexuell (T), intersexuell (I), queer (Q).