„Sprachgehabe” und „Placebo”?
Stuttgart, 19. August 2020
PRESSEMITTEILUNG
Zur Debatte um gechlechtergerechte Sprache in Baden-Württemberg
Anlässlich der aktuellen Debatte um geschlechtergerechte Sprache und deren Umsetzung im Schriftverkehr der Stuttgarter Verwaltung zeigt sich das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg von kritischen Äußerungen der Politik irritiert. Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg fordert einen angemessenen Umgang seitens der Verantwortlichen in der Landesregierung und in der Parteipolitik mit den Themen Geschlechtergerechtigkeit, Geschlechtervielfalt sowie geschlechtergerechter Sprache und bietet zu diesen Themenfeldern konkrete Unterstützung an.
Anfang des Monats, am 02. August 2020, wurde ein Interview von Baden-Württembergs Ministerpräsidenten Winfried Kretschmann veröffentlicht, in welchem er sich kritisch gegenüber dem sogenannten „Gendern” in der Sprache bzw. gegenüber geschlechtergerechter Sprache äußerte. Dabei bezeichnete er geschlechtergerechte Sprache unter anderem als „überspanntes Sprachgehabe” und Unterstützer_innen derartiger Bemühungen als „Sprachpolizisten”. Obwohl er den Nutzen von geschlechtergerechter Sprache durchaus nachvollziehen könne, wolle er sich nicht den Mund verbieten lassen und so reden dürfen, wie ihm der Schnabel gewachsen sei.
Mit seiner ablehnenden Haltung zu geschlechtergerechter Sprache scheint Baden-Württembergs Ministerpräsident in der Landesregierung jedoch nicht allein zu sein. So hatte sich bereits im Juni 2020 seine Regierungskollegin Susanne Eisenmann, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, ebenfalls kritisch geäußert und geschlechtergerechte Sprache allein als „Placebo” sowie als unzureichend in Hinblick auf Gleichstellung bezeichnet. In Zusammenhang mit der Umsetzung geschlechtersensibler Sprache im Schriftverkehr und einem entsprechenden Leitfaden für die Stuttgarter Verwaltung fragte Eisenmann nun am 04. August 2020 in einem SWR-Interview, ob es derzeit keine wichtigeren Themen in der Landeshauptstadt gebe.
Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg zeigt sich bezüglich derartiger Äußerungen irritiert, da man insbesondere in Zusammenhang mit dem Aktionsplan „Für Akzeptanz & gleiche Rechte Baden-Württemberg” sehr erfolgreich für die Gleichstellung der Geschlechter, für die Akzeptanz von Geschlechtervielfalt sowie für die Rechte von LSBTTIQ in Baden-Württemberg mit der Landesregierung zusammenarbeitet. Vor allem die Zusammenarbeit und der wechselseitige Austausch mit dem Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg werden vom Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg sehr geschätzt.
„Allen Verantwortlichen scheint bewusst zu sein, dass Sprache es vermag, Menschen konkret ein- oder auszuschließen, ihre Lebenswelten bewusst auf- oder abzuwerten sowie gesellschaftliche Veränderungen und Zustände angemessen abzubilden. Es ist daher erstaunlich, dass diese Macht einerseits anerkannt, andererseits jedoch durch die aktuelle Debatte um geschlechtergerechte Formulierungen erneut grundsätzlich in Frage gestellt wird”, meint Karimael Buledi vom Sprechendenrat des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg.
Susanne Hun, ebenfalls Mitglied im Sprechendenrat des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg, ergänzt: „Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg unterstützt konkrete Bemühungen der Stuttgarter Abteilung für Chancengleichheit von Frauen* und Männern* und Diversity, durch geschlechtergerechte bzw. geschlechtersensible Sprache die Vielfalt von Geschlecht sichtbar zu machen. Der entsprechende Leitfaden für den Schriftverkehr der Stuttgarter Verwaltung zeugt von einem Verständnis gegenüber Geschlechtervielfalt und androzentrischen Ausgrenzungen sowie angemessener Sensibilität bei einer diesbezüglichen Umsetzung.“
„Etwaige Ein- und Ausschlüsse von gesellschaftlich marginalisierten Gruppen und Menschen erfolgen jedoch auch in anderen Zusammenhängen in der Sprache, nicht nur hinsichtlich der geschlechtlichen Dimension”, fügt Karimael Buledi hinzu. „Daher setzt sich das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg konsequent für geschlechtergerechte Sprache, aber auch generell für eine diskriminierungssensible und diskriminierungsarme Sprache ein.”
Der Sprechendenrat des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg hofft, Ministerpräsident Winfried Kretschmann, Ministerin für Kultus, Jugend und Sport, Susanne Eisenmann, sowie weitere Vertreter_innen der Politik Baden-Württembergs zu einem Nachdenken hinsichtlich der getätigten Äußerungen bewegen zu können. Denn die Erstellung eines Leitfadens für geschlechtergerechte bzw. geschlechtersensible Sprache in der Verwaltung der Landeshauptstadt Stuttgart kommt nicht nur Umsetzungsvorschlägen des Bundesverfassungsgerichtsurteils von Herbst 2017 nach, sondern zeigt auch, dass eine Kooperation auf kommunaler Ebene zwischen Politik, Verwaltung und den örtlichen LSBTTIQ-Gruppen pragmatische und angemessene Lösungen ermöglichen.
Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg und seine mehr als 110 Mitgliedsorganisationen, -vereinen, -gruppen und -initiativen aus ganz Baden-Württemberg stehen für ähnliche Vorhaben sehr gerne als zuverlässige Kooperationspartner_innen bei konkretem Unterstützungsbedarf sowie als Ansprechpartner_in bei etwaigen Vorschlägen zur Umsetzung der Gleichstellung der Geschlechter zur Seite.
Über das Netzwerk: Das Netzwerk LSBTTIQ Baden-Württemberg ist ein überparteilicher und weltanschaulich nicht gebundener Zusammenschluss von lesbisch-schwul-bisexuell-transsexuell-transgender-intersexuell und queeren (LSBTTIQ) Gruppen, Vereinen und Initiativen. Das Netzwerk zeigt damit bereits die Vielfalt und die Vielgestaltigkeit von Geschlecht und sexueller Orientierungen. Ziel des Netzwerks ist es, die Zusammenarbeit der verschiedenen LSBTTIQ-Mitgliedsgruppen auf Landesebene zu fördern und den Erfahrungsaustausch zu intensivieren, zu zentralen Themen gemeinsame Positionen zu erarbeiten und gegenüber landespolitischen Entscheidungstragenden zu vertreten. Dabei greift das Netzwerk auf die vorhandenen Kompetenzen und Expertisen der Mitglieder zurück. Die Bündelung der Aktivitäten vor Ort erbringt Synergieeffekte, die den gesellschaftlichen Beitrag der Mitgliedsgruppen wirkungsvoller gestaltet. Die Eigenständigkeit jedes Mitglieds wird respektiert und alle Mitglieder arbeiten gleichberechtigt.
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