Leser:innenbrief – Vielfalt von Geschlecht wertschätzen

Stuttgart, 12.2.2021

Am 01.02.2021 wurde in der Stuttgarter Zeitung eine Kolumne mit vielen falschen Aussagen und und transfeindlichen Behauptungen veröffentlicht. Diese wollten wir nicht unkommentiert lassen. Die Mitarbeitende des Projekts „Fortbildungsangebote und Organisationsspezifische Beratungsangebote zu Vielfalt von Geschlecht“ haben daher einen Leser_innenbrief geschrieben, um wenigsten einige Punkte zu adressieren.

Leser:innenbrief

Liebe Redaktion der Stuttgarter Zeitung,

nachdem wir in Ihrer (Online )Ausgabe vom 01.02.2021 die Kolumne von Sibylle Krause-Burger mit dem Titel „Männer und Frauen als Auslaufmodelle“ gelesen haben, ist es uns ein Anliegen, Ihnen diesen Leser_innenbrief zu schreiben. Als Mitarbeitende des Projekts „Fortbildungsangebote und Organisationsspezifische Beratungsangebote zu Vielfalt von Geschlecht“ des Netzwerks LSBTTIQ Baden-Württemberg (gefördert durch das Ministerium für Soziales und Integration Baden-Württemberg) arbeiten wir täglich mit verschiedensten Einrichtungen, Organisationen, Behörden und Unternehmen zusammen und verfügen über jahrelange Expertise im Themenfeld geschlechtliche Vielfalt.

Wir sind überrascht, in einer modernen Tageszeitung einen Text zu lesen, in dem gegen eine Minderheit polemisiert wird. Wir können in diesem Leser_innenbrief nicht auf alle Falschaussagen und Behauptungen im Text von Sibylle Krause-Burger eingehen. Aus diesem Grund wollen wir uns auf ein paar Punkte beschränken und dazu Stellung beziehen.

Aus der Forderung nach einer Änderung des Personenstandes ohne Zwangsbegutachtung (beispielsweise in den Gesetzentwürfen von Grünen und FDP) wird in der Kolumne ein direkter Zusammenhang zu operativen Maßnahmen bei Jugendlichen postuliert. Diese Art der Darstellung verzerrt die Tatsachen und stellt so Zusammenhänge her, die nicht gegeben sind.

Das sogenannte Transsexuellengesetz (TSG) – „Gesetz über die Änderung der Vornamen und die Feststellung der Geschlechtszugehörigkeit in besonderen Fällen“ – und auch die neue zu schaffende Gesetzgebung beziehen sich ausschließlich auf den juristischen Vorgang der Änderung der Vornamen und des Geschlechtseintrages. Nach einer ganzen Reihe von Verfahren (zuletzt am 11.01.2011) hat das Bundesverfassungsgericht in zahlreichen Urteilen die aktuelle Gesetzgebung im TSG in Teilen für verfassungswidrig erklärt und eine neue gesetzliche Regelung als zwingend notwendig eingefordert. Dieser Forderung kommen nun endlich einige Parteien mit ihren Gesetzesentwürfen nach.

Die WHO hat mit Beschluss der ICD11 festgestellt, dass Geschlechtsinkongruenz keine psychische Erkrankung ist. Diesbezüglich muss bei dem von der Autorin zitierten Dr. Korte von einer Einzelmeinung gesprochen werden. Die 18 beteiligten Expert_innen und die 20 beteiligten Fachgesellschaften der S3-Leitlinie (AWMF) sowie die Mitglieder der Arbeitsgruppe um die ICD-11 (WHO) kommen zu einer ganz anderen Einschätzung.

Die Aussage von Frau Krause-Burger, dass „körperlich gesunden Mädchen“ die Brüste entfernt werden, ist falsch, da sie eine wichtige Tatsache außer Acht lässt: Das Wissen um das eigene Geschlecht ist keine bloße Vermutung, sondern ein tief verankertes Wissen und für das Geschlecht einer Person entscheidend. Tatsächlich müsste hier also von Jungen gesprochen werden, denen die Brüste, unter denen sie sehr leiden, operativ entfernt werden. Versuche, die Geschlechtsidentität zu verändern, verursachen großes Leid bei den Betroffenen. Dies ist unter anderem ausschlaggebend für die Änderungen in der ICD11, für das Verbot von sogenannten Konversionsbehandlungen bei transsexuellen und transgender Personen und auch für die Entscheidungen des Bundesverfassungsgerichts zum TSG (u.a. Rauchfleisch, 2016, S. 23-27; 2019, S.13-21).

Auch wir nehmen wahr, dass sich der Zeitpunkt des Coming-outs vermehrt in das Jugendalter verschiebt. Dies liegt unserer Einschätzung nach zwar auch an der gestiegenen gesellschaftlichen Akzeptanz und einem Wegfallen des Operationszwangs bei der Änderung des Geschlechtseintrages, jedoch scheinen der frühere Zugang zu Informationen über das Internet und ein größeres Angebot an Anlaufstellen (z.B. Beratungsstellen, Jugendgruppen und Einrichtungen der Jugendarbeit) ebenfalls eine große Rolle zu spielen (siehe auch Preuss, 2019 u.a. Seite 15 & 29ff.)

Ein Anstieg der Coming-outs um das Fünffache, wie es die Autorin benennt, klingt zunächst nach einer sehr großen Menge (uns interessiert übrigens sehr, aus welcher Quelle diese Zahl stammt). Auch wenn die Zahl der Coming-outs von Personen mit transsexuellem oder transgender Hintergrund in den letzten Jahren insgesamt angestiegen ist, handelt es sich noch immer um eine sehr kleine Personengruppe. Der Anteil, der tatsächliche operative Maßnahmen in Anspruch nimmt, liegt nach klinischen Studien bei etwa 0,01 Prozent in der Gesamtbevölkerung. (Siehe dazu S3-Leitlinie AWMF, Seite 7-9)

Glücklicherweise hat sich die Lage für trans Personen in den letzten Jahren deutlich verbessert. Jedoch zeigen Artikel wie der von Sibylle Krause-Burger, dass trans Personen immer noch Diskriminierung erfahren, unter einem ständigen Rechtfertigungsdruck stehen und weiterhin für ihre Rechte kämpfen müssen. Der Psychiater und Psychoanalytiker Jack Drescher sagte in einem Interview vom 08.08.2018 mit der Bundeszentrale für Politische Bildung den folgenden Satz: „Die Arbeitsgruppe für die Klassifizierung sexueller Störungen und sexueller Gesundheit in der ICD-11 hält es für angemessen, die psychopathologische Sichtweise auf Trans*personen aufzugeben, welche auf einem Modell sexueller Devianz aus den 1940ern basiert.“ – Nach dem Lesen der Kolumne hatten wir den Eindruck, dass die Argumente der Verfasserin aus genau dieser Zeit stammen.

 

Interessante Literatur zum Nach- und Weiterlesen

Link zur AWMF Leitlinie Geschlechtsinkongruenz, Geschlechtsdysphorie und Trans-Gesundheit: S3-Leitlinie zur Diagnostik, Beratung und Behandlung https://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/138-001.html

Link zur International Classification of Diseases (ICD-11) https://www.bfarm.de/DE/Kodiersysteme/Klassifikationen/ICD/ICD-11/_node.html

Transsexualität – Transidentität: Begutachtung, Begleitung, Therapie – von Udo Rauchfleisch – Vandenhoeck & Ruprecht; 5. Auflage (2016) – ISBN: 978-3-525-46270-6

Transsexualismus – Genderdysphorie – Geschlechtsinkongruenz – Transidentität: Der schwierige Weg der Entpathologisierung (Psychodynamik Kompakt) – von Udo Rauchfleisch – Vandenhoeck & Ruprecht (2019) – ISBN: 978-3-525-40516-1

Psychotherapeutische Arbeit mit trans* Personen: Handbuch für die Gesundheitsversorgung – von Günther, M., Teren, K. & Wolf, G. – Ernst Reinhardt Verlag; New Edition (2019) ISBN: 978-3-497-02881-8

Geschlechtsdysphorie, Transidentität und Transsexualität im Kindes- und Jugendalter – von Wilhelm F. Preuss – Ernst Reinhardt Verlag; 2. Aktualisierte Auflage (2019) ISBN: 978-3-497-02869-6

Inter* und Trans*identitäten: Ethische, soziale und juristische Aspekte – herausgegeben von Maximilian Schochow, Saskia Gehrmann, Florian Steger – Psychosozial Verlag (2016) – 978-3837924534

 

 

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